Ich wollte schon seit Wochen „Murder on the Orient-Express“ schauen gehen. Heute hat es endlich geklappt.
Ich war kritisch, als ich las, dass Kenneth Branagh den Poirot spielen würde. Ausgerechnet der! Der ist für mich der rothaarige Durchgeknallte aus „Peters Friends“. Ich mag den zwar aber, aber Poirot ist der nicht. Für mich, als Kind der 70er und 80er Jahre gibt es nur den einen Poirot: David Suchet.
Eine Gruppe von Menschen reist mit dem Orient-Express, jenem legendären Zug von Istanbul aus in Richtung Calais, Poirot kommt als letzter dazu und bringt mit seiner Anwesenheit den Plan der baldigen Mörder aus dem Lot. Eine Lawine (Mutter Natur ahoi!) auf der Strecke trägt auch nicht gross zur Gemütlichkeit bei. Wenigstens bleiben so die Drinks kühl. Geschäftsmann Ratchett (ein ziemlich schmieriger, aber vor Sex sprühender Johnny Depp) bittet Poirot, ihn zu beschützen. Poirot lehnt schroff ab, weil er dessen Gesicht nicht leiden mag, was in Anbetracht seines Schnäuzers doch etwas verwegen daher kommt.
Nachtrag: Ich habe übrigens kein Wort verstanden, was Johnny Depp als Ratchett im Original gesagt hat. Aber kucken kann der immer noch toll.
Dann sind da noch die anderen Passagiere: Die schrille Amerikanerin (Michelle Pfeiffer, diese sinnlichen Lippen! Diese Stimme!), ein Professor (Willem Dafoe), ein Arzt (Leslie Odom Jr, sehr energiegeladen), eine Prinzessin (Judi Dench mit lila Lidschatten), eine Gouvernante (Daisy Ridley, mein persönliches Highlight), eine Missionarin (Penélope Cruz) und ein Diener (Derek Jacobi, willensstark und zerbrechlich).
Der Mord an Ratchett passiert, Poirot wird vom ziemlich schnuckeligen Bouc (Tom Bateman, hatte ich erwähnt, dass der wirklich ein Schnuckel ist??) gebeten, den Fall aufzulösen.
Soweit so gut. Die Story ist bekannt, aber anders als in der berühmten Verfilmung mit Albert Finney, spielt hier der Subtext der Geschichte stärker als je zuvor. Poirot kämpft beim Aufklären des Falles nicht nur gegen die Mörder, sondern vor allem mit sich selber. Während es in der Verfilmung mit Finney offensichtlich nur um Drinks und Kimonos ging, spielte in der Version mit David Suchet Religion eine grosse Rolle. Branaghs Poirot hingegen findet sein Hauptthema im Gleichgewicht und Gerechtigkeit. Und Schnäuzer!
Die Bildsprache des Films ist gewaltig und das trotz CGI. Da werden einem kitschigste Sonnenuntergänge in den Bergen oder am Meer an den Kopf geknallt, bis es nicht mehr feierlich ist. Branagh versteht es, die Geschichte voranzutreiben, sei es mit der langen Einstellung seines Poirot beim Einsteigen in den Orient-Express, Schwarz-Weiss-Filmfetzen der Familie Armstrong oder am Ende des Films, wenn die Protagonisten aufgereiht wie in Da Vincis Gemälde „Das letzte Abendmahl“ sitzen.
Der Schluss von „Mord im Orient-Express“ ist unerwartet emotional und ich war ehrlich verwundert, was Branagh aus diesem Stoff herausgeholt hat. Ich hatte grossen Spass an diesem Film und habe mit Freude festgestellt, dass „Tod auf dem Nil“ ebenfalls verfilmt werden soll. Ich hoffe, dass Branagh bis dahin seinen Schnäuzer gebändigt und weitere tolle europäische Gemälde entdeckt hat, die er in seinen Film einbauen kann. Mich hat er jedenfalls mit seinem Poirot infiziert.