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Denken Sie, ich wäre sonst hier?

Vor langer langer Zeit, in einem fernen nördlichen Land, gab es einmal eine Fernsehsendung, die von sehr vielen Menschen geliebt wurde. Sie hiess Die Rudi Carrell Show und jeder, der sie sich anschaute, weinte mindestens einmal in 90 Minuten. 1992 lief sie zum letzten Mal.
Doch 15 Jahre später geschah das Wunder: Ein Jahr nach Rudis Tod läuft auf dem helvetischen Staatssender Happy Day (Häbbi Deeei). „Happy Day“ funktioniert nach dem altbewährten, seit zwei Generationen überlieferten Rezept:

Man nehme:

  • einen Moderator mit kurzem, echtem Haar und Ausstrahlung auf Frauen.
  • einen Vater oder Mutter, der/die seit mindestens 30 Jahren keinen Kontakt mehr mit der eigenen Brut hat
  • einen 90jährigen
  • Haustiere
  • Enkelkinder, falls möglich mit Haustier
  • ein Ehepaar, das einiges gemeinsam durchgestanden hat, aber immer noch verheiratet ist
  • einen heulenden Teenager
  • ein unentdecktes Gesangstalent (mit IV-Rente)
  • eine vom Schicksal gebeutelte Familie, die zudem in Unordnung/Armut/nicht ganz abgezahltem Haus lebt
  • einen abgetakelten Schlagerstar (falls möglich mit Toupet und/oder schlecht sitzenden dritten Zähnen)
  • mindestens drei nur regional bekannte SchauspielerInnen, die nicht singen können
  • einen Freak

So und nachdem dieses Rezept ausformuliert ist, möchte ich darauf zurückkommen, wie sich mir der heutige TV-Abend dargeboten hat: Sollte nach heute Abend irgendjemand behaupten, das Schweizer Farbenfernsehen besässe keinen Sinn für Realsatire, dem haue ich gerne das Videoband mit der heutigen Sendung um die Ohren
Ganz im Ernst: die meisten Menschen weinen bei Happy Day, ich hingegen verbrachte zwei Stunden gut gelaunt mit Rotwein und der Katze auf dem Schoss vor dem Fernseher und achtete darauf, dass ich mich nicht totlache. Der Weltrekord in  sarkastischen Kommentaren pro Minute (sk/min) wurde eindeutig von mir geknackt.
Dass ausgerechnet Andy Borg, die singende Sachertorte aus Wien, auftrat und gute Laune verbreitete, war eines, das Medley von Gilles (Bösewicht) Tschudi, Viola Tami, der singenden Friteuse Caroline Rasser ein anderes. Walter Roderer, der inmitten dieser Riege heimischen Schaffens getrost auf der Gartenbank Platz nahm, überzeugte mit dem Zucken seines kleinen, gichtigen Fingers immer noch mehr als die Jungspunde, die mindestens 50 Jahre jünger waren als er. Und wir lernen: wer in der Schweiz als Schauspieler Erfolg hat, braucht noch lange keine guten English-Kenntnisse.

In Happy Day erfahren wir Familiengeheimnisse, von denen wir nie etwas wissen wollten. Da stellt eine Familie mal kurz das mütterliche Koma nach, nur damit 5 Minuten später der Ehemann der Ex-Komatösen den Schacher Seppeli schmettern kann. Kinder danken ihren Eltern für Hilfe und Liebe, kaum verständlich, mental getragen von Moderator Röbi, dem man zutraut, dass er nach einer Minute ganz oscarlike das Mikrophon abstellen lässt.

Die Bauernfrau mit ihren zwei Söhnen erhält eine Komplettrenovation, allerdings nur fürs Haus. Susanne Kunz und ihr unermüdlicher Helfer Andrin Schweizer verwandeln den Hof in ein Meer aus Farben. Es ist klar, dass bei diesem Mix aus Fenster zum Sonntag und Einrichten nach Mass jedesmal der örtliche gemeinnützige Frauenverein, der Jodelchor, die Feuerwehr und die Samariterinnen mithelfen. Dass die Jodler dabei im Chutteli die Porzellan-WC-Schüsseln und den Rest der Einrichtung entsorgen, weniger.

Ach ja, der running gag der heutigen Sendung:
Der Moderator zur Mutter, die ihre Tochter seit 60 Jahren nicht mehr gesehen hat:
„Was möchten Sie Ihrer Tochter gerne einmal sagen?“
„Was? Die lebt noch?“
„Denken Sie, ich wäre sonst hier?“

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