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Und dann hau‘ ich mit dem Hämmerchen mein Sparschwein… kaputt

Wenn ich krimibegeisterte Freundinnen frage, welche Kommissare sie am liebsten mögen, kommt immer die selbe Antwort: die Blonde mit den blauen Augen, die in einer WG mit dem Schriftsteller lebt. Wir Tatort-Infizierten wissen natürlich, wen die damit meinen: Charlotte Lindholm. Lindholm-Tatorte waren bisher immer ein Garant für stilvolle, spannende und gut gemachte Unterhaltung am Sonntagabend im Ersten oder wo auch immer.

„Vergessene Erinnerung“ von Regisseurin Christiane Balthasar beginnt mit einer rasanten Autofahrt durch einen dunklen Wald. Lindholm telephoniert mit Wohnpartner Martin, der mit Charlottes Sohn bzw. dessen Blähungen zu kämpfen hat (weil er versehentlich was mit Zwiebel gekocht hat). Als die Silhouette eines Menschen vor ihr auf der Strasse auftaucht, schafft sie es gerade noch auszuweichen. Sie steigt aus dem Wagen heraus, um dann einige Sekunden später neben dem leblosen Körper zusammenzubrechen.
Gut gemacht ist hier die (Alb-)traumsequenz, in der wir nur erahnen können, ob und was sich während Lindholms Bewusstlosigkeit abgespielt hat. Charlotte wacht schliesslich wieder auf, die Tierärztin, gespielt von Ute Willing, beugt sich über sie. Verwundert bemerkt Charlotte, dass sie noch immer hinter dem Steuer ihres Wagens sitzt, obwohl sie überzeugt war, dass sie sich ausserhalb aufgehalten hatte. Schliesslich fällt sie in Ohnmacht und wacht wieder auf- diesmal im Kreiskrankenhaus. Fest überzeugt, dass ihr einige Stunden fehlen, macht sie sich auf die Suche nach der Lösung des Rätsels. Zwar sieht sie sich einigen Problemen gegenüber: „Warum hab ich zwei Pflaster?“ Arzt: „Vielleicht sind Sie Privatpatientin?“ oder „Lindholm vor Türholm“. Mann, was haben wir gelacht.

Dass sie fast von einer Wildsau über den Haufen gerannt wird, ist nur der Anfang von mehreren unheimlichen Erlebnissen auf dem Lande.
Nachdenklich stimmt uns der folgende Dialog:
Wildsau, blutend am Boden, niedergestreckt von der Mutti des Dorfpolizisten.
Die Kommissarin steht davor: „Wieviel kostet denn so… ’ne Sau?“ Die Bioterroristen vom Hof nebenan: „Zwei Bierschen. Schweigegeld.“ Na toll.
Auf der Suche nach dem geheimnisvollen Unfallopfer reist sie mitsamt Halskrause durch Niedersachsen. Die zwei Hauptthemen hier: Frauen und Land.
Per Zufall stösst sie auf das (vermeintliche) Opfer und folgt ihm. Sie landet schliesslich in der Stube der Tierärztin, die für das gehörlose Kind ihrer Freundin Erika (die zufälligerweise der Lindholm wie aus dem Gesicht geschnitten sieht) sorgt.
Zuerst wird einer der Bio-Brüder erschossen, zwischendurch ein Mitglied des „Syndikats“ und schliesslich noch der andere Bruder. Einige Szenen später droht die Lindholm mit der Verhaftung einiger Schüler, die auf einen Typen am Boden einschlagen, der den gehörlosen Jungen angegriffen (oder war’s verteidigt??) hat. Wirklich sehr realistisch.
Ihr seht: Verwirrung herrscht. Was so hoffnungsvoll begonnen hatte, ist meiner Meinung nach im letzten Akt eine Mischung aus heisser Luft mit vielerlei Zutaten: 1kg Cannabis aufm Land, drei Leichen, Erbstreitigkeiten, ein behindertes Kind, Computerspiele, und eine wild gewordene Mutti.

Wir erinnern uns, noch vor einer halben Stunde hat sie ein Wildschwein geschossen.
Original: „Junge, du wirst das Gewehr nicht finden. Es liegt auf dem Grunde der Ems.“
Dass die Gute eine Szene später ein totes Schwein aufbricht, verwundert hier niemanden mehr gross.
Die Kollegin (Idil Üner, mandeläugig und wunderschön) von der niederländischen Polizei stellt sich als böse Dealerin heraus, die auch noch Lindholms Kind entführt und erst gehen lassen will, wenn sie ihre zwei Tonnen Gras kriegt. Wie blauäugig ist das denn? Wie um Gottes Willen will sie den Gemüselaster durch Holland fahren, ohne dass ihre teuren Pumps Dreck abkriegen?
Wie mein guter Freund Serafin meinte, als er die Untergrundplantage voll Hasch erblickte: sind das jetzt die X-Files?? Aber nein! Es kommt noch besser: Die Kommissarin wird in einem nervenaufreibenden Showdown vor den Augen ihres Kindes beinahe hingerichtet, wird aber in letzter Minute von einem geheimnisvollen Schützen gerettet…
Als der Drogenkrimi aufgelöst ist, steht uns noch der andere Teil der Story bevor: die Geschichte um zwei Eheleute und die Frage, wer von beiden zuerst gestorben ist und vor allem: wer deren Hof, Geld und die illegale Untergrundplantage erbt.

Maria Furtwänglers stille und zugleich leidenschaftliche Ausstrahlung machen diesen Tatort sehenswert. Anders als in bestimmten vorangegangenen Tatorten (nein, ich werde mich nicht mehr über „Hilflos“ aufregen. Das Making-of hab ich mir eh erspart.) haben hier die beiden Drehbuchautoren Salomon und Wesskamp eine Story geschrieben, die einen vom ersten bis zumindest dem vorletzten Drittel und dann mit einer kurzen Länge noch bis zur letzten Minute fesselt. Die Bildsprache illustriert das albtraumhafte Erlebnis der Charlotte Lindholm. Als Zuschauer leiden wir mit ihr mit, egal ob Autounfall oder Wildschweinrun. Der Soundtrack (von ABBA bis Mamas and the Papas) tut sein übriges, die morbide Stimmung zu unterstreichen. Zwar wundere ich mich noch immer über Lindholms perfektes Makeup (sind die Wimpern eigentlich echt?), das sogar einen Autounfall würdevoll übersteht.

Vielleicht bildet „Vergessene Erinnerung“ nicht gerade die alltägliche Arbeit von LKA-Beamten ab, dennoch ist das Nichtvorhandensein von Dienstwaffen kein Hindernis für die rasante Dramaturgie dieses Tatorts.

Mir persönlich gefiel dieser Tatort gut. Ich hatte einige Mühe mit gewissen klischeehaften Erwähnungen (holländische Grasdealer und jugendliche Straftäter, die Computergames spielen). Doch der Showdown und die psychologische Tiefe, die Ausarbeitung der Nebenfiguren, machen diesen Film wenn nicht zu einem Juwel, dann doch zu einem Bergkristall seines Genres.

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